„Wir müssen ein neues Europa bauen“/ „Vertrauen im Bombenhagel zerstört“

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 Osteuropa-Experte Prof. Eichwede: Unser früheres Vertrauen zu Russland ist im russischen Bombenhagel zerstört worden

Jüterbog. Auf besonders großes Interesse stieß das nunmehr 4. Jüterboger Gespräch des SPD-Landtagsabgeordneten Erik Stohn. Diesmal hatte der Jüterboger Politiker den Osteuropa-Experten Professor Wolfgang Eichwede eingeladen, um über das Thema „Russland, Ukraine und wir“ zu sprechen.

„Uns alle eint der Wunsch nach Frieden. Wir wollen faktenbasiert darüber diskutieren, wie es zu dem Konflikt kam und welche Möglichkeiten es gibt, ihn zu beenden“, sagte Erik Stohn. „Ich bin dankbar, dass wir mit Olaf Scholz einen Bundeskanzler haben, der besonnen und beharrlich in der Sache agiert“, meinte er.

Professor Wolfgang Eichwede hat sein ganzes Leben der Entspannung und der Vertrauensbildung zwischen Ost und West gewidmet. Als Historiker, „der Wissenschaft nicht nur vom Schreibtisch betreibt“, fiel ihm die Aufgabe zu, Kunstwerke, die während des Zweiten Weltkriegs geraubt wurden, wieder an ihre Ursprungsorte zu bringen, sowohl nach Ost wie nach West. Eichwede gilt als einer der bedeutendsten deutschen Russland- und Osteuropa-Kenner.

Der gegenwärtige Krieg, so Eichwede, sei eine Katastrophe für beide Länder, „weil dadurch ein Gegensatz geschaffen wird, der historisch nicht zwingend war“. Von der Kiewer Rus im 9. Jahrhundert an überlappten sich wiederholt russische und ukrainische Geschichte und Kultur. Doch gab es immer ein ukrainisches Eigenleben, betonte Eichwede.

Zwischen 1917 und 1945 habe das ukrainische Volk mehr als die Hälfte seiner Bevölkerung durch Bürgerkrieg, stalinistische Unterdrückung und den deutschen Angriffskrieg verloren. Dass sie 1954 von Nikita Chruschtschow die Krim zugeteilt bekam, sei eine sowohl pragmatisch-verwaltungstechnische Entscheidung gewesen, als auch eine emotionale – quasi als Dank an die Ukraine für die Verteidigung der Sowjetunion gegen Deutschland. Der Großteil des Zweiten Weltkriegs in der Sowjetunion fand auf ukrainischem Boden statt.

Zum Ende des sowjetischen Imperiums hätten die Ukrainer 1991 mit einer überwältigenden Mehrheit für einen selbstständigen Staat plädiert. Selbst auf der Krim mit einer mehrheitlich russischen Bevölkerung stimmten ca. 54 Prozent für die Unabhängigkeit der Ukraine.

In beiden Ländern habe in den 1990-er Jahren ein hemmungsloser Kapitalismus um sich gegriffen, den die ukrainische Zivilgesellschaft (in einem mühsamen Ringen seit dem „Euro-Maidan“) zu bändigen versucht, während in Russland Putin mit Gewalt und Unterdrückung für Ordnung sorgte.

„Was in dem zunehmend autoritär regierten Russland nicht erlaubt war“, so Eichwede, „entwickelte sich in der Ukraine: Die Menschen gingen für ihre Freiheit auf die Straße.“ Das, so Eichwede, wollte Putin um jeden Preis von seiner Grenze fernhalten.

Die Behauptung, Russland kämpfe in der Ukraine gegen Faschisten und Nazis sei lächerlich. Rechtsradikale Kräfte hätten bei Wahlen deutlich weniger als fünf Prozent bekommen. Zwar habe es vor allem im Osten des Landes ethnische Spannungen gegeben, doch rechtfertigten sie keinen Krieg. Auch sei es eine krasse Fehlinformation, dass es der Westen gewesen sei, der das Friedensangebot der Ukraine kurz nach dem Überfall Russlands 2022 unterwandert habe. Vielmehr sei es Putin gewesen, der es kategorisch abgelehnt habe.

Es sei nach Russlands Annexion der Krim 2014 ein großer Fehler gewesen, Putin nicht deutlich seine Grenzen gezeigt zu haben und sogar noch Northstream 2 zu eröffnen, sagte Eichwede. „Man meinte, Russland immer noch einbinden zu können. Das war eine verhängnisvolle Selbsttäuschung.“

Je mehr Putin versuche, seine militärische Überlegenheit zu organisieren, desto mehr werfe er Russland in seinem ökonomischen Potential zurück. Es werde im Wettstreit mit China und den USA als Weltmacht unterliegen, prognostizierte Eichwede. Für Russland wäre es allein sinnvoll, sich mit der EU zu arrangieren.

„Stattdessen stehen wir in einer Konfrontation, die wir nicht wollen, die uns aber aufgezwungen wird. Ich sehe keinen anderen Weg, als die Ukraine, solange sie sich wehren kann und will, dabei zu unterstützen“, stellte der Historiker klar. „Wir haben seit Willy Brandt versucht, auf der Basis eines absoluten Gewaltverzichts Vertrauen zu Russland aufzubauen. Das ist nun im Bombenhagel auf Kiew oder Mariupol zerstört worden.“ Wie man nach diesem Krieg ein neues Europa bauen könne, sei eine Herausforderung für Generationen.

Das nächste Jüterboger Gespräch findet am 14. Mai 2024 um 19 Uhr statt. Dann ist Dr. Maria Nooke, Beauftragte des Landes Brandenburg zur Aufarbeitung der Folgen der kommunistischen Diktatur, zum Thema “Aufarbeitung noch nötig?“ zu Gast.